Über Führung, Selbstwert und den Mut zur eigenen inneren Wahrheit.
Die Arbeitswelt befindet sich in einem fundamentalen Wandel. Künstliche Intelligenz übernimmt Entscheidungen, Prozesse werden automatisiert, klassische Entscheidungsmacht verliert an Bedeutung. Was bleibt, ist der Mensch – und die Frage, wie wir künftig Kooperationsarenen und Organisationen gestalten wollen.
Warum stoßen traditionelle Führungsideale wie Kontrolle, Disziplin und die Anpassung an äußere Systeme an ihre Grenzen? Und warum wird in Zukunft Authentizität zur neuen Autorität? Unsere Vorstellung von Selbstführung muss sich wandeln: weg von Selbstkontrolle, hin zu Selbstwahrnehmung, Selbstwert und echtem Kontakt mit uns selbst.
Dafür braucht es einen kritischen Blick auf das, was viele für ihre Identität halten – das „angepasste Selbst“ –, sowie die Frage, wie wir zu einer Haltung finden, die Beziehung, Integrität und Menschlichkeit ins Zentrum rückt. Als innere Orientierung in Zeiten von Unsicherheit, Wandel und künstlicher Intelligenz.
Die alte Idee von Führung – und warum sie nicht mehr trägt
Viele heutige Führungsverständnisse sind ein Erbe vergangener Systeme – geprägt von der industriellen Logik, schulischer Disziplin und einem tief verwurzelten Ideal der Anpassung. Wer sich gut einfügt, wird belohnt. Wer sich selbst kontrollieren kann, gilt als stark. So haben es viele von uns gelernt, schon als Kinder: Sich an Regeln halten, Erwartungen erfüllen, Leistung bringen – dann läuft es.
Dieses Verständnis hat sich in die Arbeitswelt übertragen. Die gute Führungskraft war lange Zeit vor allem eines: kontrolliert – und kontrollierend. Sie war der „Oberkontrolleur“, während die Mitarbeitenden gelernt hatten, sich selbst im Zaum zu halten. Selbstführung bedeutete: sich selbst im Griff haben. Disziplin galt als Tugend, Impulse galten als Schwäche.
Noch heute dominiert oft das Bild: Wer sich zusammenreißt, kommt weiter. Wer mit offenem Visier daher kommt oder sich „ungeschminkt“ zeigt, verliert an Professionalität. Doch genau dieses Führungsmodell – das auf Selbstkontrolle und Anpassung beruht – gerät zunehmend ins Wanken. Nicht etwa, weil es grundsätzlich falsch war, sondern weil es nicht mehr zu einer Welt passt, die sich radikal verändert.
„Führung, die auf Kontrolle basiert,
wirkt nicht mehr – sie führt zur Erstarrung.“
In einer Zeit, in der Sicherheit nicht mehr garantiert werden kann, Prozesse komplex und Menschen vielfältiger werden, stößt Kontrolle an ihre Grenzen. Führung, die auf Anpassung und Kontrolle basiert, wirkt nicht mehr, sondern führt zur Erstarrung. Anpassung wird nicht mehr mit Loyalität und Erfolg gleichgesetzt, sondern mit dem Verlust von Freiheit und Gestaltungsraum. Das Vertrauen in solche „kontrollierenden“ Strukturen sinkt – und mit ihm die Bindungskraft vieler Organisationen.
Was also tritt an die Stelle? Was entsteht, wenn äußere Autorität verblasst? Die Antwort ist unbequem – aber klar: Wir brauchen eine neue Form von Autorität. Eine, die von innen kommt.
Vom Funktionieren zum Sein – die neue Bedeutung von Selbstführung
Die Idee, dass Erfolg aus Anpassung und Disziplin erwächst, hat viele Menschen lange getragen – oder besser: durchgetragen. Doch immer mehr erkennen, dass ein Leben im Modus des Funktionierens nicht nur erschöpfend ist, sondern auch entfremdend. Wir sind zwar „gut im Job“, doch innerlich weit entfernt von dem, was uns wirklich ausmacht. Der Preis: innere Leere, Identitätskrisen, Orientierungslosigkeit in einem komplexen Außen.
„Wir sind zwar ‚gut im Job‘, doch innerlich weit entfernt von dem, was uns wirklich ausmacht.“
Die Arbeitswelt fordert heute nicht weniger, sondern mehr Persönlichkeit. Aber nicht im Sinne von Selbstdarstellung oder Performance – sondern im Sinne von „innerer Verankerung“ und dem Mut zu „tiefer Bindung“. Wer führen will, muss nicht nur Systeme verstehen, sondern auch sich selbst. Und genau hier kommt der Begriff der Selbstführung auf eine neuer Art und Weise ins Spiel.
Der dänische Organisationsberater Martin Mourier unterscheidet zwei Arten von Selbstvertrauen: Self-confidence ist das Vertrauen in das, was ich kann – es basiert auf Leistung, Kompetenz, Zielerreichung. Self-esteem ist das Vertrauen in das, was ich bin – unabhängig davon, was ich tue oder leiste.
Self-confidence ist geprägt vom Außen: Ich bekomme Anerkennung, weil ich etwas geschafft habe. Self-esteem kommt von innen: Ich spüre meinen Wert, auch wenn gerade nichts gelingt. Oder bildlich gesprochen: Self-confidence ist wie Tommi und Annika – angepasst, sicher, höflich. Self-esteem ist wie Pippi Langstrumpf – frei, wild, lebendig. Beides ist wichtig. Doch in einer Welt, in der äußere Strukturen weniger Orientierung bieten, brauchen wir verstärkt das Vertrauen in unser bloßes Sein. Nur wer seinen eigenen Wert jenseits von Rollen, Zielen und Bewertungen kennt, kann andere durch Unsicherheit führen – ohne selbst den Boden zu verlieren.
Selbstführung bedeutet also nicht mehr, sich zu beherrschen. Sondern aus der eigenen inneren Resonanz heraus in Kontakt mit der Welt und anderen zu gehen. Diese Erkenntnis ist der erste Schritt in eine neue Art von Führung – einer, die nicht auf Kontrolle, sondern auf Kontakt basiert.
Das angepasste Selbst und die Illusion der Authentizität
Viele Menschen glauben, sie seien sie selbst. Doch was sie oft meinen, ist ein Selbstbild, geformt aus Erwartungen, Zuschreibungen und über Jahre verinnerlichten Rollen. Es ist das, was funktioniert hat. Was Anerkennung gebracht hat. Was als „richtig“ galt. Doch dieses Selbst ist nicht echt, sondern angepasst. Man hat sich sozusagen in die eigene Maske verliebt bzw. hält diese – da sie ja ständig gespiegelt wird – für echt.
Wir alle entwickeln solche Schutzmechanismen: Strategien, um dazuzugehören, nicht anzuecken, nicht verletzt zu werden. Wir unterdrücken Impulse, verbiegen unsere Sprache, machen uns „passend“. So entsteht, was in der Psychologie oft als das „falsche Selbst“ bezeichnet wird – ein Bild, das wir von uns zeigen, damit wir in einem System bestehen können, das unsere ursprünglichen Qualitäten vielleicht nicht wollte oder nicht sehen konnte. Das Problem: Viele halten dieses Selbst für ihr wahres Ich.
„Denn dort, wo Masken miteinander sprechen, entsteht keine Beziehung.“
In Organisationen begegnen sich dann Menschen, die beide nicht aus ihrer Authentizität handeln, sondern aus angepassten Rollen. Was entsteht, sind fragile Beziehungen voller Projektionen, Missverständnisse und Spannungen. Es ist kein Zufall, dass so viele Teamkonflikte nicht auf Kompetenz- oder Zielkonflikten beruhen, sondern auf einem Mangel an echter Verbindung. Denn dort, wo Masken miteinander sprechen, entsteht keine Beziehung.
Besonders relevant wird dieses Phänomen im Kontext von Führung: Wenn ich selbst nicht in Kontakt mit meinem wahren Selbst bin – wie soll ich dann authentisch führen? Oder noch zugespitzter: Wenn KI uns künftig die rationalen Prozesse abnimmt – was bleibt dann als Zusammenarbeit und was bleibt dann als Führungsaufgabe? Es ist die Gestaltung von Kooperationsarenen und Beziehungen. Es ist der Raum zwischen den Menschen und das Band zwischen ihnen, der zählt. Beides kann nur tragfähig sein, wenn es auf Echtheit basiert.
Doch wie kommen wir dahin? Wie erkennen wir unser falsches Selbst und finden zurück zu dem, was wir wirklich sind und wo – ganz nebenbei – unser Potenzial liegt?
Beziehung statt Kontrolle – und der unbequeme Weg zur Authentizität
Wer in Zukunft führen will, muss mehr können als Entscheidungen treffen und Macht verwalten. Er oder sie muss sich selbst aushalten, muss bereit sein, sich zu zeigen – mit Zweifeln, Widersprüchen, vielleicht sogar mit Wunden. Denn dort, wo wir einander wirklich begegnen, entsteht Vertrauen. Und Vertrauen ist die neue Währung wirksamer Führung.
Dieser Weg ist – ehrlich gesagt – nicht bequem. Authentizität lässt sich nicht machen. Sie beginnt mit der ehrlichen Frage: Bin ich das wirklich – oder spiele ich eine Rolle? Oft ist der erste Schritt zur Authentizität das Eingeständnis, dass wir sie verloren haben. Dass wir „funktionieren“, um Erwartungen zu erfüllen. Dass wir Anerkennung suchen, anstatt aus uns selbst heraus zu handeln. Wer diesen inneren Zweifel ernst nimmt und den festen Griff des „falschen Selbst“ spürt, hat bereits begonnen, sich selbst zu begegnen.
Der Weg zurück zu sich selbst führt über mehrere Ebenen: über das Beobachten eigener Gedanken und Motive, über das Benennen der eigenen Masken („Mr. Effizienz“, „Ms. Anpassung“), über die Rückbesinnung auf echte Sinneswahrnehmung – und über das bewusste Aushalten von Emotionen wie Langeweile, Angst oder Wut. Denn auch sie sind Teil unserer Vitalität.
„Authentizität entsteht nicht durch Selbsterkenntnis allein – sondern durch zwischenmenschliche Resonanz.“
Und schließlich geht es um die tiefste Schicht: die Kernwunde. Jene kindliche Erfahrung, in der wir gelernt haben, dass wir so, wie wir sind, nicht genügen. Diese Wunde lässt sich nicht alleine heilen. Sie braucht Beziehung – eine echte, wohlwollende Begegnung mit einem Gegenüber. Mit einem Mentor, einem Coach oder Therapeuten. Authentizität entsteht nicht durch Selbsterkenntnis allein – sondern durch zwischenmenschliche Resonanz.
Wer diesen Weg geht, wird verletzlich. Aber genau darin liegt die Kraft. Denn aus dieser Verletzlichkeit wächst etwas, das keine KI ersetzen kann: menschliche Tiefe, Klarheit und Verbundenheit.
Authentizität ist kein Ziel – sie ist der Boden für tragfähige Beziehungen und wirksame Führung
Die Rückkehr zur Authentizität verändert die Qualität unserer Beziehungen – und damit das Fundament jeder Organisation. Denn Führung entfaltet ihre Wirkung erst durch reale Präsenz. Nur wer sich selbst nicht täuscht, ist in der Lage, andere nicht zu täuschen. Nur wer sich selbst wahrnimmt, kann auch andere wirklich wahrnehmen.
„Nur wer sich selbst nicht täuscht, ist in der Lage, andere nicht zu täuschen.“
In einer Welt, in der Entscheidungsprozesse zunehmend automatisiert und Routinen delegierbar werden, gewinnen jene Fähigkeiten an Bedeutung, die nicht programmierbar sind: Empathie, Wahrnehmung, Integrität. Qualitäten, die nur aus innerer Arbeit entstehen. Wenn Führungskräfte bereit sind, sich mit ihrem eigenen Selbstbild, mit ihren Mustern und inneren Spannungen auseinanderzusetzen, verändert sich ihr Führungsverhalten. Aber auch die Kultur der Zusammenarbeit wandelt sich: Kommunikation wird klarer, Beziehungen werden belastbarer, Verantwortung wird nicht mehr kontrolliert, sondern übernommen.
Das wirkt sich unmittelbar auf die Leistungsfähigkeit von Organisationen aus. Denn Menschen, die in einem Klima psychologischer Sicherheit arbeiten, entwickeln mehr Initiative, zeigen mehr Kreativität – und sind in der Lage, produktive Konflikte auszuhalten. Dort, wo Authentizität gelebt wird, entsteht kein künstlicher Konsens, sondern eine belastbare Vielfalt. Und genau das ist es, was Organisationen in dynamischen Zeiten brauchen.
Authentische Führung ist damit keine Alternative zur klassischen Autorität – sie ist ihre Weiterentwicklung. Sie verlangt mehr Bewusstsein, mehr Selbstklärung, mehr innere Standfestigkeit. Doch gerade deshalb ist sie zukunftsfähig. Denn sie verbindet das, was heute oft getrennt ist: Menschlichkeit und Wirksamkeit.
Das Buch „Starke Selbstführung als Weg zum Erfolg“, das ich gemeinsam mit Sylvia Kreutzer-Egelhaaf verfasst habe, vertieft viele der in diesem Artikel behandelten Themen. Im Zentrum steht die Frage, wie wir als Führungskräfte – und als Menschen – Zugang zu unserem echten Selbst finden und daraus Orientierung, Klarheit und Beziehungsfähigkeit entwickeln können. Ein besonderes Augenmerk liegt dabei auf den Archetypen nach C. G. Jung, die wir als innere Ressourcen und Entwicklungsimpulse für zeitgemäße Selbstführung nutzbar machen.
Das Buch richtet sich an alle, die Führung nicht als äußere Rolle, sondern als inneren Reifungsprozess verstehen – und die bereit sind, diesen Weg bewusst zu gehen. Es erscheint am 7. Juni 2025 im Haufe Verlag: https://shop.haufe.de/prod/starke-selbstfuehrung-als-weg-zum-erfolg
Über mich
Ich begleite seit über 25 Jahren Menschen in ihrer persönlichen und spirituellen Entwicklung – mit Methoden aus Tiefenpsychologie, systemischer Arbeit, Archetypenlehre und Achtsamkeit. In meinen Retreats (Hero’s Journey, Lover’s Journey, Wisdom Journey) sowie in Meditationsretreats und im 1:1-Mentoring geht es um echte Transformation: klar, integrativ und verbunden mit dem, was größer ist als wir selbst.
Mehr zu meinem Background findest Du hier.